Kassenärztliche Vereinigung Sachsen-Anhalt

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Editorial PRO 8/2024

Notfallreform: Unnötige und belastende neue Strukturen

Sehr geehrte Kollegin, sehr geehrter Kollege,

das Bundeskabinett hat dem Gesetz zur Reform der Notfallversorgung zugestimmt, der Gesetzentwurf geht nun in den Bundestag. Ziel der Reform sei – so zu lesen in der Pressemitteilung des Bundesgesundheitsministeriums – Hilfesuchende im Akut- und Notfall schneller in die passende Behandlung zu vermitteln und Notfalleinrichtungen effizienter zu machen. Kernstück sollen sogenannte Akutleitstellen, Integrative Notfallzentren und aufsuchende Dienste sein. Dass es sich hierbei um nur sehr wenige Patienten handelt, deren Versorgung sich verbessert, wird großzügig unterschlagen.

Akutfälle sollen rund um die Uhr und flächendeckend telefonisch oder per Videosprechstunde sowie durch aufsuchende Dienste beraten und behandelt werden. Durch Sie, liebe ambulant tätige Kollegen, und Ihre Mitarbeiter. Dafür soll der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen geändert werden.

Das Paradoxe: Ein Kernstück des Gesundheitswesens, das sich über Jahrzehnte bewährt hat und von der Bevölkerung wertgeschätzt wird, nämlich die flächendeckende wohnortnahe und qualitativ hochwertige ambulante Versorgung, wird augenscheinlich bewusst geschwächt, um eine Parallelstruktur aufzubauen. Eine Parallelstruktur, die aus unserer Sicht unnötig ist. Es wird mit einem Personaleinsatz rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, geplant. Der sich verstärkende Arztzeit- und Fachkräftemangel wird dabei vollkommen ausgeblendet. Schon jetzt sind etwa 300 Arztstellen in Sachsen-Anhalt unbesetzt, medizinisches Fachpersonal wird händeringend gesucht. Das bedeutet im Umkehrschluss: Für einen täglichen, 24 Stunden aufsuchenden Dienst sind die personellen Kapazitäten schlichtweg nicht da. Es wird eine zusätzliche Versorgungsebene geschaffen, für wenige, sich schlecht durch die Versorgungsebenen steuerbare Patienten, zu Lasten der anderen Patienten und zu Ihren Lasten.

Und nicht nur, dass die Vertragsärzte und Psychotherapeuten – kommt die Notfallreform in der jetzigen Form – personell belastet sein werden. Nein, auch finanziell. Die neuen Strukturen sollen jeweils hälftig von den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen finanziert werden. Dem Gesetzgeber ist sehr wohl bewusst, dass sich der Haushalt einer jeden Kassenärztlichen Vereinigung aus der Verwaltungskostenabgabe der abrechnenden Ärzte und Psychotherapeuten in Form eines Abzugs von der Vergütung der erbrachten ärztlichen und psychotherapeutischen Leistungen finanziert. Eine Erhöhung der Ausgaben der Kassenärztlichen Vereinigung würde somit zu einer zusätzlichen Minderung der Vergütung führen. Für die ambulante medizinische Versorgung der Patienten stünde somit weniger Geld zur Verfügung. Es sollen Strukturen finanziert werden und nicht Versorgung. Schon jetzt können die Leistungen der Vertragsärzte in Sachsen-Anhalt nur zu 90 Prozent vergütet werden, da die budgetierte Gesamtvergütung, die die Krankenkassen zahlen, nicht für eine vollständige Vergütung aller Leistungen ausreicht. 

Und dann sollen junge Mediziner motiviert sein, nach dem Studium vertragsärztlich tätig zu werden, beziehungsweise ältere Mediziner länger als eigentlich nötig zu arbeiten… Auch wenn wir uns, glaube ich, einig sind, dass wir einen der schönsten, aus- und erfüllendsten Berufe der Welt haben: Immer mehr Leistungen, immer mehr gesetzliche Pflichten für immer weniger Geld – das kann nicht sein.

Doch wen wundert es… Die aktuellen Lauterbach’schen Pläne lassen wieder einmal eine Wertschätzung der Arbeit der ambulant tätigen Ärzte und Psychotherapeuten vermissen. Er scheint weiterhin auf dem ambulanten Auge blind.

Schafft die Notfallreform selbst einen Notfallpatienten – die ambulante Versorgung? Statt die ambulante Versorgung mit mehr Studienplätzen, mehr Absolventen zu stärken, fit zu machen für mehr Ambulantisierung, mehr Digitalisierung und in ein neues Zeitalter zu führen, scheinen obendrein die Visionen zu fehlen.

Im August wird uns noch ein weiteres wichtiges Thema intensiv beschäftigen: Die Honorarverhandlungen zwischen Vertragsärzten und Krankenkassen zum Orientierungswert für 2025. Unser Ziel ist klar: Ein Prozentsatz, der die Kostensteigerungen der Praxen angemessen abfedert. Die Tarifsteigerungen für die Medizinischen Fachangestellten der letzten zwei Jahre müssen Berücksichtigung finden, ebenso die Steigerungen für Klinikärzte. Der ambulante und der stationäre Bereich dürfen nicht mit zweierlei Maß gemessen werden, beide Bereiche werden gebraucht.

Steigende Personal-, Praxis- und Investitionskosten, die Inflationsrate, budgetierte Leistungen: Die Praxen dürfen nicht weiter belastet werden. Es muss endlich Entlastungen geben. Der Orientierungswert kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Ihr
Jörg Böhme