Editorial PRO 5/2023
Wenn Neustart, dann die Basis von Anfang an einbeziehen...
Sehr geehrte Kollegin, sehr geehrter Kollege,
"Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück. Das können wir nicht länger verantworten. Deshalb machen wir einen Neustart…", so Bundesgesundheitsminister Lauterbach zur Digitalisierungsstrategie. Unter anderem soll bis Ende 2024 die elektronische Patientenakte für alle gesetzlich Versicherten mit Opt-Out-Verfahren eingerichtet und das elektronische Rezept zum 1. Januar 2024 verbindlicher Standard werden.
Neustart – das hört sich in diesem Zusammenhang gut an. Denn die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist bislang den Vertragsärzten und Vertragspsychotherapeuten übergestülpt worden. Nicht einmal beim Entwickeln und Einführen von digitalen Neuerungen wurden wir einbezogen, kein Eingehen auf Hinweise aus dem Praxisbetrieb, kaum ein Nachjustieren. Das eRezept ist in die Dauertestphase geschickt worden. Immer mehr Praxen, aber auch nur diese, sind technisch in der Lage, eArztbriefe zu versenden und zu empfangen. Die eine oder andere stationäre Einrichtung kann mittlerweile einen elektronischen Medikationsplan erstellen beziehungsweise lesen…
Dabei stehen die ambulant tätigen Ärzte und Psychotherapeuten einer Digitalisierung mit Mehrwert offen gegenüber. Wissen sie doch um die Vorteile, die die Digitalisierung bringen kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Videosprechstunde als sicherer und beständiger Kontakt zum Patienten, die durch die Corona-Pandemie an Bedeutung gewonnen hat. Auch das Telekonsil mit den Kollegen und das Videokonsil mit den Pflegefachkräften findet langsam Einzug in den Praxisalltag.
Aber die digitalen Neuerungen müssen funktionieren, wenn sie in die Praxen kommen und nicht erst dort getestet werden. Sie müssen sofort merk- und messbare Vorteile bringen und nicht das Praxisteam zusätzlich belasten und den Ablauf stören. So ist es bislang gewesen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen – auch die Vertreterversammlung der KVSA hat dazu Resolutionen verfasst und an die entscheidenden Gremien adressiert.
Nun also verkündet Bundesminister Lauterbach mit der Digitalisierungsstrategie den Neustart. "Moderne Medizin braucht digitale Hilfe" wird er auf der Internetseite des Bundesgesundheitsministeriums zitiert. Momentan sehen sich die Praxen eher hilflos vor den digitalen Anwendungen, die alles andere als ausgereift bei ihnen ankommen. Somit sollte verständlich sein, dass die Praxen der Digitalisierungsstrategie eher abwartend gegenüberstehen. Lieber Prof. Lauterbach, überzeugen Sie uns eines Besseren, arbeiten Sie mit den Vertragsärzten und Vertragspsychotherapeuten zusammen, holen Sie sich Rückmeldungen von der Basis. Bauen Sie auf freiwillige Tester aus der Fläche statt gleich halbfertige Testversionen in den Praxen verpflichtend und flächendeckend einzuführen. Nur so werden alle Seiten von den digitalen Neuerungen überzeugt sein und von ihnen profitieren.
Die technische Funktionstüchtigkeit ist die eine Seite – die finanzielle die andere. Auch da sind es die Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten, die viel zu oft den Kürzeren ziehen. So bleiben sie nach jetzigem Stand auf einem Teil der Kosten zur Finanzierung der Telematik- Infrastruktur (TI) sitzen. Denn bezüglich der zu verhandelnden monatlichen Pauschale für Ausstattung und Betrieb der TI ist es bislang mit dem Verband der Krankenkassen zu keiner Einigung gekommen.
Wenn mit dem angekündigten Neustart der Digitalisierung im Gesundheitswesen die Gesundheitsversorgung wirklich verbessert und vorangetrieben werden soll, dann muss die Basis mitgenommen werden, dann müssen mehr Leistungserbringer mit ins Boot. Und zwar von Anfang an.
Ihr Jörg Böhme